Das gerade einmal zwei Minuten und einundvierzig Sekunden lange Video Webcam Venus (2013) beginnt relativ nichtssagend: mit einem kreisenden Buffering-Symbol. Das erste Bild zeigt einen jungen Mann im Kapuzenpullover, der etwas nachdenklich an der Kamera vorbeischaut. Im zweiten Bild ist eine junge Frau mit neutralem Gesichtsausdruck zu sehen. In einem schwarzen Negligé liegt sie bäuchlings auf dem Sofa, in ihrer Brille spiegelt sich der Monitor eines Laptops. Das dritte Bild zeigt ein älteres Pärchen, das ruhig nebeneinandersitzt, die Frau hat ihren Kopf auf der Schulter des Mannes abgelegt, in dessen Brillengläsern ebenfalls zwei helle Bildschirm-Rechtecke flimmern. Alle drei Aufnahmen scheinen von Webcams gefilmt.
Dann wechselt das Bild auf eine Chatzeile vor schwarzem Hintergrund: „hello there“. Mit dem nächsten Schnitt erscheint ein junges Paar, das gemeinsam auf einem Bett sitzt: die Frau, in einem weit ausgeschnittenen Trägertop, streichelt ihrem oberkörperfreien Partner gerade zärtlich das Ohr, als dieser die Nachricht zu bemerken scheint und sich neugierig nach vorne beugt, um zu antworten. Da dreht plötzlich die Musik auf und das Video geht in eine zügige Sequenz stellenweise durch Verpixelung zensierter Clips über: tanzend, posierend, die Beine spreizend oder masturbierend bewegen sich nackte Menschen vor ihren Webcams – zwischengeschnitten mit anfeuernden und herausfordernden Chatkommentaren. Bis wieder die Chatzeile des ‚eingreifenden Erzählers‘ vor schwarzem Hintergrund erscheint: „would you like to pose for me?“
Webcam Venus ist ein Projekt von Addie Wagenknecht, amerikanische Künstlerin, und Pablo Garcia, Assistant Professor am Department of Contemporary Practices am School of the Art Institute in Chicago. Wagenknecht und Garcia haben für ihre Arbeit Streamingseiten für Sexcams besucht und Performer/Innen über die integrierten Chatfenster angeschrieben. In losem Anschluss an die alte Kunst- und Unterhaltungsform der Tableaux vivants – eine Art highbrow ‚Mannequin Challenge‘ des 18. und 19. Jahrhunderts – gaben sie ihren Models klassische Gemälde der Kunstgeschichte zum Vorbild und baten sie, die dargestellten Körperstellungen der Figuren einzunehmen.
Auf die Frage „would you like to pose for me?“ antwortet ‚kimisquirtx‘ im Video mit „i thinkyes“ – und entledigt sich ihres weinroten Oberteils, um sich in die entspannte Rückenlage von Titians Venus von Urbino (1538) zu begeben: die rechte Hand auf einem Kissen, die linke im eigenen Schoß abgelegt. „lean your head back…“, weist der Erzähler sie an, und ‚kimisquirtx‘ lehnt den Kopf zur Seite. Es folgen noch zwölf weitere solcher Nachstellungen, darunter Rafaels La Formarina (1518), da Vincis Mona Lisa (1503–06) und Rembrandts Danaë (1636).
Im Splitscreen sind jeweils beide Bildversionen zu sehen: auf der rechten Seite das analoge Original, auf der linken dessen digitale Neuverkörperung. Der Effekt dieser Montagen schwankt zuweilen zwischen Anmut und Komik. Die Performer/Innen schmiegen sich den Haltungen der Figuren aus den Meisterwerken an und entwickeln darin eine eigene Form von Schönheit. Gleichzeitig setzt der unübersehbare Kontrast – wenn etwa ein monotoner Hintergrund auf der rechten Seite durch ein unaufgeräumtes Sofa auf der linken gespiegelt wird – sowie die bloße Dauer der eingehaltenen Posen auch bei ihnen immer wieder ein freudiges Zucken der Mundwinkel frei.
Wie Wagenknecht und Garcia in einem begleitenden Kommentar darlegen, verstehen sie ihre Arbeit als Transgression der Unterscheidung zwischen high art und low porn. Gerade durch die Nebeneinanderstellung kanonisierter Gemälde und deren via Livestream mediatisierter ‚Verlebendigungen‘ versuchen sie Fragen nach Normierungen und Tradierungen in den Darstellungsweisen nackter Körper, von Sexualität und Schönheit aufzuwerfen. Solche Fragen genau in diesem Kontext zu stellen liegt nahe, geht mit dem Aufkommen frei zugänglicher Sexcams schließlich nicht bloß quantitativ eine neue Verfügbarkeit von Darstellungen sexualisierter Körper einher, sondern gleichfalls eine qualitative Verschiebung in der Produktion, Konsumtion und Wertung derselben.
Diese These vertritt zumindest Emily Witt, Autorin von Future Sex: A New Kind of Free Love (2016), in einem Artikel über ihre Recherche zu einer Free-to-Watch Sexcam-Seite, auf der die Zuschauer/Innen den Performer/Innen ‚Trinkgelder‘ spendieren können. Neben mechanisch auf Geldgewinn orientierten Webcam-Models begegnet Witt hier Menschen, für die das Internet eigene Möglichkeiten sexueller Entfaltung bereitzustellen scheint. Sie erzählt von Frauen, die mit Sex offline schlechte, langweilige, mitunter sogar gar keine Erfahrungen gesammelt hatten, bevor sie diesen im Stream neu oder wieder für sich entdeckten: Are You Internet Sexual? Ausgerechnet die öffentliche Produktion, das offene Zur-Schau-Stellen ihrer Körper biete einen Raum für mitunter aufwändig inszenierte Performances sexueller Identitäten. Das Medium biete zudem Schutz vor ungewollten Schwangerschaften, physischer Gewalt und Geschlechtskrankheiten. Verbale Aggressoren würden aus dem Chat verbannt, in denen, so berichtet es Witt, zuweilen in einer Art Prozess ethischer Selbstregulation parallel zu den Shows Diskussionen über Feminismus und sexuelle Selbstbestimmung stattgefunden haben sollen.
Wenn Sexting und intime Videochats bereits verbreiteter Bestandteil menschlicher Kommunikationsweisen geworden sind, in denen eine Unterscheidung zwischen analogen und digitalen Erfahrungen gar nicht mehr haltbar ist, machen Sexcams aus Witts Perspektive bloß noch den öffentlichen Teil eines auch ins Private eingezogenen Paradigmas der ‚Internetsexualität‘ aus: „When mediated bodies can inhabit the same temporal dimension, the distinct purposes of porn, sex work, casual sex, internet dating, and social networking start to blur.”
Gleichzeitig ist es aber auch die Unterscheidung des Öffentlichen und des Privaten selbst, die in der Digitalisierung von Intimität zur Disposition steht. Eine von Witts Interviewpartnerinnen hat dafür den Begriff der ‚Mass Intimacy‘ gefunden: Massenintimität. Im Unterschied zu herkömmlichen, ‚ergebnisorientierten‘ Porno-Websites, schüfen die zum Teil über Stunden meandernden Sexshows im Livestream zumindest potentielle, teilweise auch realisierte Möglichkeiten eines zwar mediatisierten, dennoch geteilten, sexuellen Austauschs im Chat. Wagenknecht und Garcia beschreiben dieses Phänomen mit dem verwandten Begriff der ‚Public Intimacy‘. Ehemals privaten Räumen vorbehaltene Praktiken werden in öffentliche Formen geteilter Intimität transformiert, die analoge Welt um digitale Erfahrungschancen bereichert.
Dass die alten Meisterwerke der Analogizität in einer dermaßen durchdigitalisierten Welt dennoch eine Störung darstellen können, macht abschließend eine recht kuriose Beobachtung aus:
When asked to pose in a ›classic‹ manner, sexcam performers become suddenly self-aware; they want to adjust their hair or surroundings to meet the request. […] We began to see a paradox emerge: IRL (in real life), art nudes are acceptable while naked bodies are inappropriate; NIRL (not in real life), graphic sex acts are acceptable yet de-sexualization on cam was difficult for some performers to maintain.
Bleibt nicht nur den Performer/Innen zu wünschen, dass Sexualität in Zukunft zwar eine, aber nicht die einzige Erfahrung sein wird, die im Internet möglich ist. Eine Wiederbelebung des Tableau vivant mag in dieser Hinsicht ein sehr guter Anfang sein.